Warum sind „woke“ Menschen in Diskussionen so emotional? Die Ursprünge und Auswirkungen der Wokeness-Bewegung

In der heutigen digitalen Ära haben sich Debatten über soziale Gerechtigkeit und politische Themen intensiviert, oft begleitet von starken emotionalen Reaktionen. Doch warum sind Menschen, die sich als „woke“ identifizieren, so leidenschaftlich und emotional in ihren Diskussionen? Wir beleuchten die Hintergründe dieser Emotionalität, die Ursprünge der Wokeness-Welle, ihre Auswirkungen auf Deutschland, das Phänomen „Cancel Culture“ und geben ein Beispiel aus der Realität.

In Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und politische Themen fällt oft auf, dass Menschen, die sich als „woke“ bezeichnen, besonders leidenschaftlich und emotional reagieren. Diese Emotionalität lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären:

Starke moralische Überzeugungen: Menschen, die sich als „woke“ identifizieren, setzen sich intensiv für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und die Bekämpfung von Diskriminierung ein. Diese Anliegen sind tief in ihren moralischen und ethischen Überzeugungen verankert, was zu einer starken emotionalen Bindung an diese Themen führt.

Persönliche Betroffenheit: Viele dieser Menschen haben persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung, Rassismus, Sexismus oder anderen Formen von Ungerechtigkeit gemacht. Solche Erfahrungen intensivieren emotionale Reaktionen, wenn diese Themen diskutiert werden.

Engagement und Aktivismus: Aktivismus erfordert ein hohes Maß an emotionalem Engagement, um wirkliche Veränderungen zu bewirken. Menschen, die sich intensiv für soziale und politische Themen einsetzen, empfinden oft eine tiefe Leidenschaft und Dringlichkeit, die zu emotionalen Diskussionen führen kann.

Konflikt mit gegensätzlichen Ansichten: Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und politische Themen sind oft polarisiert, besonders wenn sie auf Menschen treffen, die gegensätzliche Ansichten vertreten. Dieser Konflikt kann zu Frustration und erhitzten Debatten führen, besonders wenn eine Seite das Gefühl hat, dass grundlegende Menschenrechte und Werte in Frage gestellt werden.

Mediale Darstellung und Social Media: In sozialen Medien werden extreme Positionen und Emotionen oft verstärkt. Algorithmen belohnen kontroverse und emotionale Inhalte, was dazu führt, dass Diskussionen intensiver und polarisiert werden. Zudem werden diese Diskussionen oft in einem öffentlichen Forum geführt, was den Druck erhöht, die eigene Position leidenschaftlich zu verteidigen.

Kulturelle und soziale Dynamiken: Die „woke“ Bewegung ist Teil eines größeren kulturellen und sozialen Wandels. Menschen, die sich für diesen Wandel einsetzen, sehen sich oft gegen Widerstände und etablierte Strukturen kämpfen, was zu einem erhöhten emotionalen Engagement führt.

Ursprünge der Wokeness-Welle

„Wenn ich ein Wort gebrauche“, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nichtmehr und nicht weniger.“
„Es fragt sich nur“, sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.“

„Es fragt sich nur“, sagte Goggelmoggel, „wer der Stärkere ist, weiter nichts.“ 
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (1871)

Die Wokeness-Bewegung hat ihre Wurzeln in den USA und entstand ursprünglich aus der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre. Der Begriff „woke“ selbst wurde in den 2010er Jahren populär und steht für ein Bewusstsein gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen. Mit dem Aufkommen der Black Lives Matter-Bewegung und anderen sozialen Bewegungen in den letzten Jahren hat die Wokeness-Welle weltweit an Fahrt gewonnen.

Auswirkungen auf Deutschland

Die Wokeness-Bewegung hat auch in Deutschland Einfluss genommen. Sie hat Debatten über Themen wie Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit, LGBTQ+-Rechte und soziale Ungleichheiten belebt. Dies zeigt sich unter anderem in Initiativen zur Diversität und Inklusion in Unternehmen, Bildungsinstitutionen und in der politischen Diskussion.

In Deutschland hat die Wokeness-Welle zu einer erhöhten Sensibilität und einem stärkeren Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und Diversität geführt. Es gibt jedoch auch Widerstand und Kontroversen, insbesondere von konservativen Kreisen, die der Bewegung vorwerfen, zu dogmatisch oder ideologisch zu sein. Diese Spannungen spiegeln sich in öffentlichen Debatten und sozialen Medien wider und tragen zur Emotionalität der Diskussionen bei.

Cancel Culture: Ein umstrittenes Phänomen

Ein weiterer Aspekt, der in Zusammenhang mit der Wokeness-Bewegung oft diskutiert wird, ist die sogenannte „Cancel Culture“. Dieser Begriff beschreibt die Praxis, Personen oder Organisationen öffentlich zu boykottieren oder ihre Plattformen zu entziehen, wenn sie als moralisch oder ethisch verwerflich angesehen werden.

Definition und Praxis: Cancel Culture kann als eine Form der sozialen Sanktion betrachtet werden, bei der Menschen für problematische oder beleidigende Äußerungen oder Verhaltensweisen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies kann durch den Verlust von Jobs, Auftrittsmöglichkeiten oder sozialer Anerkennung geschehen.

Kontroverse und Kritik: Befürworter argumentieren, dass Cancel Culture ein notwendiges Mittel ist, um Machtmissbrauch und Diskriminierung zu bekämpfen. Kritiker hingegen sehen darin eine Form der Zensur und einen Angriff auf die Meinungsfreiheit. Sie argumentieren, dass Cancel Culture zu einer Atmosphäre der Angst und Selbstzensur führen kann, in der Menschen aus Angst vor sozialer Ächtung ihre Meinungen nicht mehr frei äußern.

Ein Beispiel aus der Realität: Die Bronzeskulptur „Primavera“ an der Europa-Universität Flensburg

Ein konkretes Beispiel, das die Auswirkungen der Wokeness-Bewegung und der Cancel Culture in Deutschland illustriert, ist die Entfernung der Bronzeskulptur „Primavera“ des Künstlers Fritz During (siehe Beitragsbild).

Die Skulptur, die eine nackte Frau mit breiten Hüften und über dem Kopf verschränkten Armen darstellt, stand jahrzehntelang im Eingangsbereich der Europa-Universität Flensburg. Im März 2023 wurde sie jedoch auf Drängen des Gleichstellungs- und Diversitätsausschusses der Universität entfernt.

Kritik an der Skulptur: Einige Studentinnen und Wissenschaftlerinnen fühlten sich durch den Anblick der „Primavera“ unwohl. Die Gleichstellungsbeauftragte Martina Spirgatis kritisierte, dass die Skulptur ein „überkommenes Frauenbild“ symbolisiere und Frauen auf ihre Gebärfähigkeit reduziere. Sie sei daher als „Empfangsdame“ an so zentraler Stelle einer Universität ungeeignet.

Kontroverse um Kunstfreiheit: Die Entfernung der Skulptur löste eine Kontroverse um Kunstfreiheit und Entscheidungsabläufe an der Universität aus. Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) forderte die Wiederaufstellung und startete eine Petition, die über 2.000 Unterschriften sammelte. Die stellvertretende AStA-Vorsitzende Alina Jacobs kritisierte, dass die Interpretation des Gleichstellungsausschusses die Darstellung von Weiblichkeit an der Universität dominiere. Sie forderte, dass die Universität „ein Zeichen für einen offenen Diskurs in Sachen Kunstfreiheit setzen“ müsse.

Weiteres Vorgehen: Das Universitätspräsidium bedauerte, dass die Plastik ohne vorherige Diskussion entfernt wurde. Ab dem Herbstsemester 2023 wurde die „Primavera“ wieder öffentlich zugänglich gemacht und Gelegenheit für Diskussion und Meinungsaustausch sollte gegeben werden. Der AStA zeigte sich zufrieden und betonte, dass sowohl die Bedenken der Frauen als auch die Sichtweise derjenigen, die in der Entfernung einen Angriff auf die Kunstfreiheit sehen, ernst zu nehmen seien. Eine Interessenabwägung im Lichte des Grundrechts auf Kunstfreiheit sei nötig.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie tief verwurzelte moralische Überzeugungen und die Dynamiken der Wokeness-Bewegung zu emotionalen Debatten führen können. Es zeigt auch die Herausforderungen, die sich aus der Balance zwischen sozialen Gerechtigkeitsanliegen und der Kunstfreiheit ergeben.

Zusammengefasst zeigt sich, dass die Emotionalität in Diskussionen und Kommentaren von „woke“ Menschen durch eine Kombination aus starken moralischen Überzeugungen, persönlichen Erfahrungen, aktivistischem Engagement, Konflikten mit gegensätzlichen Ansichten, den Dynamiken der sozialen Medien und dem breiteren kulturellen Kontext verursacht wird. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass Diskussionen über soziale Gerechtigkeit oft sehr emotional und leidenschaftlich geführt werden.

Quellen / Weiterführende Informationen

Mai Linh Tran „Ich bin nicht woke. Eine Widerrede gegen Gendern, Woke, Cancel Culture und anderes Gedöns“ (Link zu Google Books)

Cancel Culture Demokratie in Gefahr Von Kolja Zydatiss · 2021 (Link zum Artikel)

Cancel-Culture: Eine alte Angst in einem neuen Gewand (Link zu einem Artikel)

Gibt es Cancel Culture? Mit Julian Nida-Rümelin und Jürgen Habermas (Link zum NDR)

Ein Gedanke zu „Warum sind „woke“ Menschen in Diskussionen so emotional? Die Ursprünge und Auswirkungen der Wokeness-Bewegung“

  1. Ich bezeichne mich nicht als „Woke“. Welche Person nutzt den Begriff als Selbstbezeichnung? Ist der Begriff „Woke“ vielleicht eine Zuschreibung von außen? „Wokeness lässt sich mit Wachsamkeit übersetzen. Woke Menschen nehmen Unrecht genau wahr. Sie werden aber auch als selbstgefällige Moralapostel verurteilt. Zu Recht? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.“ (https://www.dw.com/de/woke-gutmenschen/a-68089581) „Wachsam bleiben gegen Rassismus, gegen Gewalt und Diskriminierung ist gut, sollte man meinen.“

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