Mein Weg in die Freiheit – Die dramatische Flucht über die Ostsee

In einer schicksalhaften Nacht im Jahr 1969 wagte Axel Mitbauer (geb. 3. März 1950 in Leipzig), ehemaliger DDR-Leistungsschwimmer, das Unvorstellbare – eine 22 km lange Flucht durch die eiskalten Gewässer der Ostsee. Lesen Sie seine packende Geschichte in der Ich-Perspektive.

Die Dunkelheit der Nacht umhüllte mich, als ich am Strand von Boltenhagen stand und tief durchatmete. Mein Herz raste vor Aufregung und Angst, denn ich wusste, dass der Weg in die Freiheit, den ich gewählt hatte, einer der gefährlichsten sein würde.

Die Entscheidung

Hinter mir lag die Enge der DDR, die mich seit meiner Kindheit eingeengt und unterdrückt hatte. Vor mir lag die Ostsee, eine gewaltige Wasserfläche, die mich von der ersehnten Freiheit in der Bundesrepublik trennte. Doch ich war entschlossen, dieses Risiko einzugehen. Am 17. August 1969 gegen 21 Uhr abends stieg ich bei Boltenhagen – dem westlichsten Badeort der DDR – in die Ostsee.

Der Sprung ins Ungewisse

Langsam watete ich ins Wasser, die Kälte drang sofort durch meine Schwimmkleidung. Mit jedem Meter, den ich mich vom Ufer entfernte, wurde mir bewusster, dass es kein Zurück mehr gab. Ich musste schwimmen, egal was kommen würde. Die ersten Meter waren die schwersten, denn der Schock der eisigen Temperaturen lähmte meine Muskeln. Doch mein Überlebenswille war stärker als die Kälte. Ich zwang mich weiter, Zug um Zug kämpfte ich mich voran.

Die Qualen der Nacht

Ohne Orts- und Wetterkenntnis schwamm ich 22 km in Richtung Westen,  zuerst nur an den Sternen, später durch die Küstenlinie bei Neustadt orientiert. Die Stunden zogen sich wie eine Ewigkeit. Die Dunkelheit erschwerte die Orientierung, und die Strömung drohte, mich immer wieder von meinem Kurs abzubringen.

Meine Arme und Beine wurden zunehmend taub, doch ich durfte nicht aufgeben. Immer wieder sah ich Bilder meiner Vergangenheit in der DDR vor meinem geistigen Auge – die Unterdrückung, die Perspektivlosigkeit, die Sehnsucht nach Freiheit. Diese Visionen gaben mir die Kraft weiterzumachen.

Am Limit

Nach Stunden unermüdlichen Kampfes begannen meine Kräfte rapide zu schwinden. Der Körper war am Limit, die Erschöpfung übermächtig. In solchen Momenten waren es nur meine eisernen Willen und der Gedanke an ein freies Leben, die mich aufrecht hielten.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich kurz davor war aufzugeben, als am Horizont die ersten Umrisse der deutschen Küste auftauchten. Dieser Anblick war wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit und gab mir die letzte Reserve an Kraft.

Die Rettung

Gegen 24 Uhr erreichte ich die Leuchtboje 2a in der Lübecker Bucht, bei der ich bis zum Morgen ausharrte. Um 7:14 Uhr entdeckte mich der Kapitän der Passagierfähre „Nordland“ und nahm mich an Bord. Die Geschichte meiner Flucht verkaufte ich für 10.000 DM an die Zeitschrift Stern.

Die Konsequenzen

Doch meine Flucht hatte auch einen bitteren Beigeschmack: Meine in der DDR verbliebene Mutter verlor ihren Arbeitsplatz, weil sie sich weigerte zu unterschreiben, nie einen Sohn gehabt zu haben. Erst sechs Jahre nach meiner Flucht durfte sie aus der DDR ausreisen. Das Ministerium für Staatssicherheit verschärfte zudem die Überwachung der Spitzensportler, um künftige Fluchten bereits im Vorfeld zu unterbinden.

Leben in der Bundesrepublik

In diesem Moment war ich frei – frei von Unterdrückung, frei von Angst und bereit, mein neues Leben in Würde zu beginnen. Bei den Europameisterschaften 1970 konnte ich mit der 4-mal-200-Meter-Freistilstaffel Gold für die Bundesrepublik holen, erreichte jedoch nachher keine weiteren großen sportlichen Erfolge mehr.

An dem Qualifikationsrennen für die Olympischen Spiele 1972 konnte ich infolge einer Verletzung nicht teilnehmen, die ich mir bei einer Leichtathletikvorprüfung an der Deutschen Sporthochschule Köln zugezogen hatte.

Ich absolvierte eine Ausbildung zum Diplom-Sportwissenschaftler in Köln und nahm beim Düsseldorfer Schwimmclub eine Anstellung als Nachwuchstrainer an.

In den 1980er Jahren arbeitete ich sieben Jahre auf Sardinien. Von Januar 2006 bis Juli 2013 trainierte ich die SGR Karlsruhe; zuvor war ich als Cheftrainer beim Schwimmverein beider Basel.

Im September 2017 feierte ich meine Rückkehr in den Schwimmsport und wurde Trainer beim Swim Team Lucerne.

Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Meine dramatische Flucht über die Ostsee war ein Kraftakt ohnegleichen, aber sie hat mir gezeigt, dass man mit eiserner Entschlossenheit und dem Willen zur Freiheit selbst die größten Hürden überwinden kann. Heute blicke ich mit Stolz auf diese Nacht zurück – sie hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. # Ende #

Ergänzung: Seit dem Mauerbau am 13. August 1961 bis zur deutsch-deutschen Grenzöffnung 1989 wagten rund 5.600 Menschen die Flucht über die sogenannte „nasse Grenze”. Rund 80 Prozent von ihnen wurden bei dem Versuch verhaftet, vermutlich 913 (etwa 16 Prozent) ist die Flucht gelungen und mindestens 174 Menschen starben bei ihrem Fluchtversuch. ,„Ihre Leichen wurden an die Strände zwischen Fehmarn, Rügen und Dänemark gespült oder im Meer in Fischernetzen gefunden”, wird der Wissenschaftler Henning Hochstein von der Universität Greifswald zitiert. (Quelle)

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