Lehrer setzt ein tragisches Zeichen gegen Atompolitik: Der Suizid vom 16. November 1977

„Ich wähle die letzte und äußerste Form des Protestes und nutze anstelle des [zu ergänzen: seit drei Wochen geplanten „granitenen“] Leuchtturms doch wenigstens noch die Sandburg zu einem Feuerzeichen […]“
– Hartmut Gründler: Anhang zum Flugblatt vom 14. November 1977

Der 16. November 1977 war ein Buß- und Bettag. In Hamburg fand an diesem Tag der SPD-Bundesparteitag statt. Hartmut Gründler, ein 62-jähriger Lehrer aus Tübingen, hatte sich zu diesem Anlass angekündigt, um mit einer Selbstverbrennung auf die Gefahren der Atommüll-Endlagerung aufmerksam zu machen. Wer war Hartmut Gründler? Wie war seine Kindheit?

Kommen wir zurück auf den 16. November. Gründler fuhr mit dem Zug nach Hamburg. Was muss in ihm während der Fahrt vorgegangen sein? Er war mit einem Brief an die Öffentlichkeit (1) gereist, in dem er seine Beweggründe für seinen Protest erläuterte. In dem Brief schrieb er, dass er die Atompolitik für eine „Katastrophe“ halte. Er warnte vor den Gefahren der Atommüll-Endlagerung und forderte, dass die Atomkraftwerke sofort stillgelegt werden.

Den Tag der Selbstverbrennung hatte er mit Bedacht gewählt: Am evangelischen Buß- und Bettag wollte Hartmut Gründler selbst eine „lebende Fackel des Protests“ gegen die Kernenergie sein – enttäuscht auch darüber, dass Helmut Schmidt ihm ein persönliches Gespräch verweigert hatte.

Nach seiner Ankunft in Hamburg ging Gründler zur Mönckebergstraße, einer belebten Einkaufsstraße in der Hamburger Innenstadt. Er trug einen Mantel und eine Mütze, um sich zu tarnen. Er hatte eine Flasche Benzin und ein Feuerzeug bei sich.

Buch-Tipp: „Ein Mensch brennt“. 1977 verbrennt sich Hartmut Gründler selbst – aus Protest gegen die Atomkraft. Nicol Ljubić hat daraus einen Roman gemacht.

Gründler ging vor die Petrikirche, eine evangelisch-lutherische Kirche in der Mönckebergstraße. Er hielt einen Moment inne und schaute sich um. Gegen 12.20 übergoss er sich vor dem Gotteshaus in der Mönckebergstraße mit Benzin und zündete sich an.  Seine Kleidung hatte er zuvor mit Papier ausgestopft. Ein Mensch brennt – mitten in Hamburg (2)

Passanten versuchten, Gründler zu löschen, aber die Flammen waren zu groß. Gründler wurde schwer verbrannt und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Er starb fünf Tage später an den Folgen seiner Verletzungen.

Gründlers Selbstverbrennung schuf in Deutschland und international großes Aufsehen. Er wurde von vielen Menschen als ein Akt des Protestes gegen die Atompolitik gewertet.

Die Bundesregierung reagierte auf den Tod Gründlers, indem sie das Thema Endlagerung neu auf die Tagesordnung setzte. Sie beauftragte eine Kommission mit der Suche nach einem geeigneten Endlager für Atommüll.

Warum tut jemand sowas?

Werfen wir einen Blick auf die Kindheit von Gründler. Die Faktenlage ist dünn. Er wurde 1930 als Sohn eines Pastors in Hümme bei Kassel geboren. Er hatte eine ältere Schwester.

Gründlers Eltern waren streng religiös. Sie legten großen Wert auf Bildung und Disziplin. Gründler war ein guter Schüler und besuchte das Gymnasium in Kassel.

Nach dem Abitur absolvierte Gründler eine Maurerlehre. Er wollte Architekt werden, brach das Studium aber ab und wurde Lehrer.

Gründler war ein engagierter Mensch. Er interessierte sich für Politik, Geschichte und Umweltschutz. Er war ein Gegner der Atomkraft und engagierte sich in verschiedenen Organisationen gegen die Atompolitik.

Ob es in Gründlers Kindheit Misshandlungen gab, ist nicht bekannt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen misshandelt wurde.

Allerdings ist es möglich, dass Gründlers strenge religiöse Erziehung einen Einfluss auf seine spätere Entwicklung hatte. Der Vater wird als „autoritär“ (3) beschrieben. Er war ein sehr moralischer Mensch und hatte ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Es ist möglich, dass er die Ungerechtigkeit der Welt als Kind nicht ertragen konnte und sich deshalb für soziale und politische Gerechtigkeit einsetzte.

Gründlers Selbstverbrennung war ein tragisches Ereignis, das aber auch ein Zeichen seines Engagements für eine bessere Welt war. Er war ein Mann, der sich für seine Überzeugungen einsetzte und bereit war, dafür alles zu geben.

Gedenktafel erinnert

Seit 2015 ist eine unscheinbare Glastafel an die Kirchenfassade geschraubt. Die Gedenktafel informiert in weißer Schrift auf grauem Grund:

Vor dieser Kirche setzte HARTMUT GRÜNDLER (1939-1977) mit seiner Selbstverbrennung / ein Zeichen. Es war der 16. November 1977, am Buß- und Bettag, als er sich mit Benzin übergoss und selbst entzündete. Diese Tat war sein letzter Protest / gegen den Bau von Atomkraftwerken. Vor den Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima warnte er vor den tödlichen Gefahren der Atomenergie. Er starb am 21. November 1977 an den Folgen seiner Verbrennung.

Quellen / Weiterführende Informationen

(1) Auf einem doppelseitig bedruckten DIN-A5-Flugblatt schrieb er darin – von sich selbst in der dritten Person sprechend – unter anderem: 

„Gründler nennt seine Aktion eine Tat nicht der Verzweiflung, sondern des Widerstandes und der Entschlossenheit. Er will dem Sachzwang der Profitgier, des Dummenfangs, der Überrumpelung hier, der Trägheit und Feigheit dort einen Sachzwang des Gewissens entgegensetzen.“

– Hartmut Gründler: Flugblatt vom 14. November 1977

In dem direkt an den Bundeskanzler gerichteten „Anhang“ zu diesem Appell schrieb er weiterhin: 

„Ich wähle die letzte und äußerste Form des Protestes und nutze anstelle des [zu ergänzen: seit drei Wochen geplanten „granitenen“] Leuchtturms doch wenigstens noch die Sandburg zu einem Feuerzeichen […]“

– Hartmut Gründler: Anhang zum Flugblatt vom 14. November 1977

(2) Auffällig unauffällig taz

(3)  „Erinnerungen an eine behütete, im Grunde glückliche Kindheit im beschaulichen Tübingen. An den autoritären und doch geliebten Vater. (…) in „Literaturkritik

Dokumentation der Tübinger Gründler-Gedenkveranstaltung am 17. November 2012 (Link)

Beitragsbild (Symbol zum Thema Selbstverbrennung): Ein buddhistischer Mönch begeht Suizid durch Verbrennen auf dem Zentralmarkt in Saigon, 5. Oktober 1963. Autor/-in unbekannt – Stewart, Richard W. (2002, „Deepening Involvement 1945-1965, Center of Military History, United States Army, S. 51)

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